NEUSTART FÜR CHILE

Es war ein zweites Mal soweit – die Kamingespräche haben sich online vor dem digitalen Kamin getroffen und wieder in einer gemütlichen Runde (mit über 50 Interessierten) fleißig diskutiert. Diesmal zum Thema der neuen Verfassung für Chile. Wir haben uns die Fragen gestellt, wie es zu dieser Situation in Chile kam, wie bedeutend sie auch für die ganze Welt ist und was die Zukunft für Chile bringt – ein NEUSTART für CHILE? Dazu haben wir uns Gäste mit unterschiedlichen Bezügen zu dem Thema eingeladen, um mit ihren Inputs einen Überblick über die Lage in Chile zu bekommen und eine offene Diskussion einzuleiten.

Erster Redner war Dr. Sebastian Dorsch. Er ist Assistenzprofessor für lateinamerikanische Geschichte an der Uni Erfurt und beschäftigt sich mit der raum-zeitlichen Positionierungen lateinamerikanischer Akteure innerhalb der atlantischen Welt. Aufmerksam wurden wir auf ihn durch seine Rolle als wissenschaftlicher Koordinator des Projektes “Westwindows”, in welchem er bereits Einblicke in die Lage in Chile gegeben hatte. Er zeigte deutlich auf, weshalb die Entscheidung für eine neue Verfassung in Chile am 25. Oktober 2020 ein historisches Ereignis ist. Sehr selten kommt es vor, dass eine komplett neue Verfassung geschrieben wird, angeregt durch die Bevölkerung. In Chile soll die Verfassung durch eine verfassungsgebende Versammlung ausgearbeitet werden, welche genderparitätisch besetzt wird. Diese verfassungsgebende Versammlung arbeitet unabhängig vom Parlament und wird separat gewählt. Historisch bedeutungsvoll ist auch die Beteiligung der Indigenen Bevölkerung an der Ausarbeitung der neuen Verfassung. Er zeigte zudem den Vergleich zum Entstehen der alten Verfassung auf, welche in einer (grausamen) Diktatur 1980 unter Pinochet entstanden ist. Zentrale Zielstellung der Verfassung damals war der Machterhalt der Militärjunta. Die alte Verfassung führte zu einem Reallabor des Neoliberalismus, welches weltweit von Bedeutung war. Durch das exportorientierte Wirtschaftssystem und das neue Gesellschaftssystem dahinter stand Chile symbolhaft für den Neoliberalismus der 1980er Jahre. Seit dem Ende der Diktatur hat sich die noch gültige Verfassung im nun demokratischen Chile bislang nicht grundlegend nicht verändert.

Daran anschließend warf Dr. Dorsch die Frage auf, inwieweit die hohen Erwartungen der Bevölkerung sich tatsächlich in der zukünftigen Verfassung wiederfinden werden. Entscheidend wird dabei die Zusammensetzung der noch zu wählenden Verfassungsgebenden Versammlung sein. Wird das ein symbolischer Endpunkt des neoliberalen Zeitalters in Chile bzw. auch weltweit? Das Statement stößt Reaktionen und Entwicklungen an und es werden spannende Verfassungsdiskussionen folgen.

Einen persönlichen Einblick in die Situation vor Ort konnte uns Maximiliano Menes Schulz geben. Er studiert derzeit im ersten Semester Urbanistik an der Bauhaus Universität, kommt aus Chile, wo er 19 Jahre seines Lebens gelebt hat. Er beschreibt die Stimmung in Chile als in einer sozialen und politischen Krise mit deutlichen sozialen Spannungen, aus welcher heraus die Demonstrationen entstanden. Chile ist ein sozial gespaltenes Land mit einer stark polarisierten Gesellschaft. Bedingt durch die Privatisierung von Bildungseinrichtungen, Gesundheitssystemen, Rentenkassen und anderen sozial orientierten Institutionen gibt es keine Chancengleichheit. Diese Ungleichheiten sind enorm und haben sich in den letzten Jahren immer mehr verstärkt. Dies sei in den Medien lange Zeit nicht beachtet oder verdrängt worden, doch die Realität wurde immer spürbarer, was auch zu einem Identitätsproblem führt, da die Bevölkerung immer mehr das Vertrauen in die politische Klasse verlor.

Dieser Wandel entstand vor allem durch eine neue Generation, welche die Diktatur mit ihren Einschränkungen nicht mehr erlebt hat und die Welt anders kennengelernt hat. Durch sie sei ein Wandel in der Gesellschaft angestoßen worden mit dem Wunsch nach Chancengleichheit vor allem im Bildungssystem welcher die ersten Protestationen 2006 auslöste.

Insbesondere auf die Demonstrationen in Chile ist Maximiliano besonders eingegangen. Er selbst protestierte zu dieser Zeit friedlich in Deutschland, doch seine Freunde erzählten ihm von den Demonstrationen vor Ort. Während den Demonstrationen mit Millionen Teilnehmer*innen entwickelte sich ein unbeschreibliches Gemeinschaftsgefühl. Auf den Straßen kamen unterschiedliche Menschen zusammen, vernetzten sich und immer neue Ideen wurden entwickelt über unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen hinweg.

Die Polizeigewalt kam für viele damals plötzlich, da die Polizei zuvor keinen schlechten Ruf bei der Bevölkerung hatte und respektiert wurde. Diese Überraschung führt zu gewaltsameren Protestaktionen. Die Politik hatte die Lage unterschätzt. Mit der einsetzenden Polizeigewalt gegen die Demonstrationen mit immer weiter steigenden Teilnehmer*innenzahlen, eskalierten die Proteste.

Ein weiterer Gast in unserer Runde war Petra Schlagenhauf, eine Juristin aus Berlin, welche sich intensiv mit der chilenischen Verfassung beschäftigt. Sie hat einerseits einen persönlichen Bezug durch einen Schüleraustausch im Jahr vor der Machtübernahme von Pinochet und weil sie als junge Studentin in Deutschland gegen die Diktatur Pinochets demonstrierte, sowie andererseits, da im Migrationsrecht arbeitet und sich in Vereinsarbeit für die Rechte lateinamerikanischer Frauen einsetzt.

Sie gab uns einen detaillierteren Einblick in die Verfassung unter Pinochet. Durch Pinochet Putsch wurde das Verfassungsrecht zunächst außer Kraft gesetzt und das Militärregime regierte kurzzeitig ohne gesetzliche Grundlage. Ziel des Putsches waren einerseits der Sturz der Volksregierung und die Etablierung eines neuen Wirtschaftsmodells nach Milton Friedmann, einer radikal neoliberalen Schule. Zur Durchsetzung des neuen Wirtschaftssystems wurde Gewalt angewendet und Menschen getötet. In dieser Zeit verschwanden mehrere Personen, flohen, wurden verhaftet und starben unter dem Regime. Der Staat unterdrückte durch seinen Terrorismus die Bevölkerung, insbesondere die Linken und Fortschrittlichen. Diese ideologische Schiene des Staates hat sich in der Verfassung gezeigt. Ihrer Logik zufolge musste der "innere Feind" bekämpft werden. Als Resultat wurden sozialstaatliche Aspekte nicht in die Verfassung aufgenommen. Weite Teile der Daseinsvorsorge wurden privatisiert, wodurch sich die gesellschaftliche Spaltung vertieft wurde.

Petra Schlagenhauf machte deutlich, dass es immer klar war, dass diese Verfassung reformiert werden muss. Doch es ist der Bewegung des letzten Jahres zu verdanken, welche so einen Druck auf die Regierung aufbauen konnte, und damit den Prozess zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung angestoßen hat.

Unser vierter Gast in der Runde war für viele ein vertrautes Gesicht: Max Welch Guerra, Professor für Raumplanung und Raumforschung an der BUW. Er ist Politikwissenschaftler, gebürtiger Chilene und ist unter Pinochet als politischer Flüchtling nach Deutschland gekommen ist.

Durch seine persönlichen Erfahrungen in den Bewegungen Ende der 70er Jahre in Chile zeigte er ihren Hintergrund kurz auf zieht Parallelen zur aktuellen Protestkultur.

Schon 1970 zu Zeiten der sozialistischen Regierung Alendes sollte unter Bedingungen einer demokratischen Wahl der Sozialismus ohne Gewalt unter Beachtung der bürgerlichen Freiheit aufgebaut werden. An diese Bewegung sei nach 50 Jahren durch junge Leute auf der Straße wieder angeknüpft worden und die Ideen auch mit neuen Themen weitergetrieben. Dazu gehören vor allem Frauenrechte und Rechte der indigenen Bevölkerung welche präsenter denn je in der Bewegung aufgenommen werden und in Gesängen und Fahnen vertreten werden.

Er machte zudem deutlich, dass Chile trotz allem eine fortschrittliche Gesellschaft sei mit vielen unterschiedlichen Nationalitäten und Minderheiten. In diesem Land hat sich über Jahre hin weg eine Vorstellung entwickelt mit einer neuen Verfassung ohne Unterdrückungen und mit Freiheiten für alle zu leben. Um diese Unterdrückung zu bekämpfen, glaubt Max Welch Guerra, bedarf es zivilen Ungehorsams, damit dieses Ziel an Reichweite gewinnt und mehr Gehör findet.

Leider sollen wir uns nicht zu sicher sein, dass eine neue Verfassung kommt, da diese durch eine 2/3 Mehrheit der Verfassungsmitglieder bestätigt werden muss. Die Wahl der Verfassungsgebenden Versammlung steht noch aus. Sie werden die neue Verfassung ausarbeiten, entsprechend groß wird ihr Einfluss sein. Daher ist es denkbar, dass eine neue Verfassung noch blockiert wird durch die Rechten, wobei dies nicht das erste Mal wäre. Daher bleibt es notwendig, dass auf die Straße gegangen wird und nicht nur eine Integration der Demonstrant*innen in das Parlament entsteht, um die einmalige Möglichkeit einer neuen Verfassung weiter zu verfolgen.

Anschließend wurde in der Fragerunde darauf eingegangen, was passiert, wenn die neue Verfassung nicht angenommen wird. Dabei waren sich die Referent*innen einig, dass die Bewegung weiter bestehen bleibt und viel Druck ausüben wird. Dennoch zeigten sich alle auch besorgt zu den möglichen Unwägbarkeiten, welche während der Ausarbeitung der Verfassung noch auf Chile zukommen könnten.

Zudem wurde über die gesellschaftliche Spaltung Chiles diskutiert, inwieweit die Demonstrationen diese verstärkt oder möglicherweise reduziert haben. Dabei spielen auch die Medien immer eine Rolle. Auf der einen Seite die großen konservativen Medien, welche am Anfang der Bewegung die Demonstrationen kriminalisiert haben und eher als Terror beschrieben haben. Und auf der anderen Seite die jüngeren Medien mit mehr Vernetzung zur linken Szene, durch welche diese mehr Popularität erlangen konnte.

Die Gäste waren sich einig, dass die Bewegung nicht aufgeben kann und es entscheidend ist, wie sie sich in die neue Versammlung und Verfassung mit einbringen (können). Ob alles gut gehen wird ist noch offen, aber wie Maximiliano hoffnungsvoll abschließend sagt: „Chile ist wach und muss wach bleiben!“

Wir bedanken uns für alle die an dem Abend teilgenommen haben ob als Zuhörer oder aktiv in der Runde. Besonderer Dank gilt den Vortraggebenden: Danke, dass es möglich war über dieses Thema in Austausch zu treten und so auch Themen, welche manchmal weit weg erscheinen uns in unser Bewusstsein zu rufen

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