SPEAKERS CORNER

Vom Protestieren und dem Einstehen für Veränderungen in Ecuador und Ungarn

Kamingespräch vom 24. 10. 2019

Speakers Corner ist das offenste Format der Kamingespräche: jede*r bekommt dabei die Möglichkeit ein vorab vorbereitetes Thema, was besonders am Herzen liegt, kurz und knapp vorzustellen. Im Anschluss wird darüber diskutiert und ein Austausch über die Themen angeregt, die normalerweise aus dem Blick geraten.

In diesem Beitrag möchten wir zwei Themen unseres letzten Speakers Corner-Kamingespräch am 24. Oktober 2019 aufgreifen, welche wir besonders spannend fanden und welche auch in diesen Tagen nicht untergehen sollten. Es geht einerseits um die massiven Proteste in Ecuador als Teil der Protestwelle in Südamerika und andererseits um die politische Lage in Ungarn.

Wie war das nochmal? Und wie hat sich die Lage seitdem dort entwickelt?

Proteste in Ecuador

Fotoquelle: https://lalineadefuego.info/2019/11/06/protestas-en-ecuador-del-paro-que-no-paro-hasta-devolvernos-la-esperanza/

Die Architekturstudentin Carolina, welche ursprünglich aus Ecuador kommt, konnte uns einen Einblick in die Protestwelle in Ecuador geben und diesen mit Bildern und aufgenommenen Videos ihrer Familie vor Ort illustrieren.

Die Demonstrationen in Ecuador im Oktober 2019 waren eine Protestwelle auf nationaler Ebene, die mobilisieren sollte – mobilisieren gegen die wirtschaftlichen Maßnahmen, welche durch die Regierung von Lenín Moreno angekündigt wurden. Ursache dieser Maßnahmen waren eine Vereinbarung zwischen der ecuadorianischen Regierung und dem Internationalen Währungsfonds (IWF), um Kredite für das Land zu erhalten. Eine der Auflagen waren strikte Sparmaßnahmen, die Moreno mit einem umfassenden Sparplan umsetzen wollte. Dieser Plan hätte große Auswirkungen auf die Wirtschaft des Landes gehabt, vor allem aber auch große Teile der Bevölkerung in Existenznöte gestürzt, da viele bereits nahe am Existenzminimum leben. Die umstrittenste Änderung war die Aufhebung der Benzinsubvention, welche die Preise für Benzin stark ansteigen ließ. Der Anstieg des Benzinpreises betraf vor allem die indigene und ländliche Bevölkerung, die auf das Auto als Transportmittel angewiesen sind und auch Benzin für Landwirtschaftsfahrzeuge benötigen.

Diese Maßnahmen wurden von der ecuadorianischen Bevölkerung Paquetazo genannt – Spanisch für Betrug oder Schwindel. Angeführt wurden die Proteste gegen den Paquetazo von indigenen und anderen gesellschaftlichen Gruppen, die sich von der Regierung umgangen fühlten.

Bei den Protesten kommt es zu Gewalt. Das Rechnungszentrum, sowie eine Zeitungsredaktion und einzelne Geschäfte werden zerstört. Unter Einsatz von Tränengas setzen auch Sicherheitskräfte Gewalt ein, um die protestierenden Menschenmengen einzudämmen. Es gibt mindestens 7 Tote und es wird von tausenden Verletzten gesprochen.
Der Ausnahmezustand wird ausgerufen und eine Ausgangssperre in den großen Städten verhängt.

Um der Gewalt und den Protesten ein Ende zu setzen und um auf die Todesopfer aufmerksam zu machen, sprechen sich die Menschen, die nicht protestieren, über soziale Netzwerke ab. Abends um 8 Uhr soll die Bevölkerung des Landes in der Hauptstadt Quito auf Gegenstände klopfen und so die Aufmerksamkeit der Regierung und des ganzen Landes mit Lärm erreichen.

Carolina zeigte uns hier ein Video ihrer Familie, welches wir leider nicht in diesem Blogbeitrag zeigen können. Doch war es sehr beeindruckend, wie die Klopfgeräusche minutenlang durch ganz Quito hallten.

Am 11. Tag des Protests willigt der ecuadorianische Präsident Lenin Moreno ein mit Vertretern der indigenen Bevölkerung zu verhandeln. Er stimmt einer Zurücknahme des Anstiegs der Benzinpreise zu.

Trotz der Einigung und dem Ende der heftigen Protestwelle steht das Land Ecuador vor Fragen: Wie können die Schulden in Zukunft abbezahlt werden? Wie kann der sozialen Ungleichheit zwischen Stadt und Land und vor allem zu der indigenen Bevölkerung entgegengewirkt werden?

Darüber hinaus stellen sich uns Fragen, die gerade in diesen Zeiten von Relevanz sind.
Kann der Einsatz von Gewalt im Hinblick auf die Erreichung von Zielen, die die gesamte Bevölkerung betreffen, überhaupt jemals gerechtfertigt sein?
Wie können Protestaktionen friedlich gelingen?
Und wie kann in Zeiten der Pandemie und Ausgangssperren durch neue Formen der Protestaktionen Aufmerksamkeit erreicht werden?

 

Ungarn und Orban Victor

Im Oktober 2019 kam es in Ungarn zu einem historischen Wahlergebnis. Die sonst im ganzen Land dominante Partei Fidesz „Ungarischer Bürgerbund“ hatte bei den Kommunalwahlen deutlich Konkurrenz bekommen – besonders in Budapest und anderen Großstädten, welche in Ungarn die politische Situation stark prägen.

Die Urbanistikstudentin Enikő, welche in Budapest aufgewachsen ist, hat sich vor der Wahl mit anderen engagierten Bewohner*innen Budapests aktiv für eine höhere Wahlbeteiligung eingesetzt. In Ungarn gibt es eine sehr hohe Wahl- und Politikverdrossenheit, daher versuchte die Gruppe „Freies Budapest“ (Szabad Budapest), welche sich für die Opposition einsetzt, die Bevölkerung Budapests zum Wählen zu bringen. Mehrere Tage lang und bis spät in die frühen Morgenstunden des Wahltages gingen diese durch die Stadt, Kneipen, etc. und quatschten dort die Bewohner*innen Budapests an, um sie daran zu erinnern, wählen zu gehen und davon zu überzeugen, dass sie etwas durch ihre Stimme verändern können.

Ihre intensive Überzeugungsarbeit wurde von Erfolg gekrönt:

Am 13. Oktober 2019 verlor Viktor Orbán, der Ministerpräsident Ungarn das Image der Unbesiegbarkeit, zumindest in Budapest und in einigen Großstädten. Der regierungsnahe Langzeit-Bürgermeister der Hauptstadt wurde durch das überraschende Wahlergebnis abgelöst und in den oppositionellen Großstädten sprach man gleich von einem „historischen Sieg“ und begann eine grüne, solidarische, partizipative Stadt zu planen.

Obwohl die Oppositionsparteien in den Kommunalwahlen unerwartet erfolgreich waren, bleibt die nationalstaatliche Ebene davon vorerst unberührt, da dort die konservative Partei von Viktor Orban weiterhin die Mehrheit besitzt. Unter Berufung auf traditionelle und religiöse Werte setzt die Regierung ihren stark autoritären Kurs fort, während auf kommunaler Ebene in Budapest und einigen Großstädten seit den letzten Monaten die demokratischen Oppositionsparteien das Ruder übernommen haben – oder zumindest in ihren möglichen Handlungsspielräumen versuchen es zu übernehmen, um einen politischen und gesellschaftlichen Wandel anzustoßen. Aus dieser Situation erfolgt nun ein politischer Dissens, der sich auch gut an städtebaulichen Themen ablesen lässt durch die Umgestaltungen öffentlicher Räume. Die Stadt und ihre öffentlichen Räume werden als ideologische Waffe benutzt wird, was sich schon seit 2010 (Beginn der zweiten Orban-Regierung) radikalisiert hat. Beispielsweise wurde am Lajos-Kossuth-Platz, einer der wichtigsten historischen Plätze Budapests, welcher sich vor dem Parlament befindet, innerhalb von kurzer Zeit alle Statuen der linken und liberalen Politiker*innen von der Regierung entfernt und den Platz in den Zustand von 1944 zurückverwandelt. Die Umgestaltung war eine der ersten Maßnahmen, um zu demonstrieren, wie Budapest – und somit auch seine Bewohner*innen – nach den Werten der Regierung auszusehen hat. Sie klammerte damit 70 Jahre der ungarischen Geschichte − inklusive der Wende − aus.
Auch im Nachgang der Kommunalwahl 2019 wird die Stadt und ihre Menschen weiterhin zum Spielball im Machtkampf zwischen Regierung und Opposition werden.

Seit Ausbruch der Corona-Pandemie spitzt sich die politische Situation in der Hauptstadt zu. Die Hauptstadt leidet unter anderem unter der fiskalischen und rechtlichen Gängelung der Zentralregierung, da Orbáns Partei im Parlament über die absolute Mehrheit verfügt und es vollbracht hat, durch die Implementierung von Ausnahmeregelungen die Corona-Epidemie als Vorwand zur Abschaffung jenes Rests an Demokratie zu nutzen, der in Ungarn nach zehn Jahren seiner Herrschaft noch übriggeblieben ist. Das Parlament wird durch die Ausnahmeregelungen entmachtet und Falschmeldungen, welche von der Regierung als solche erkannt wurden, mit fünf Jahren Gefängnis bestraft. Die Situation ist sehr beängstigend.

Mehr über die Wahl im Oktober 2019 könnt ihr in diesem Artikel lesen:

https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/kommunalwahlen-in-ungarn-fidesz-verliert-budapest-16431885.html

Jetzt ihr

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