Doppelkamingespräch über die Geflüchtetensituation in der EU und Thüringen
Kamingespräche vom 14.11.2019 und 21.11.2019
Wie haben wir unsere bisherige Zeit mit den coronabedingten Kontaktbeschränkungen verbracht? Die meisten Weimarer Studierenden waren wahrscheinlich durchgängig in Weimar oder zuhause bei ihren Familien. Bei vielen steht also mittlerweile die 9. Woche seit Inkrafttreten des ersten Maßnahmenpaketes der Bundesregierung an, die wir mehr oder weniger mit denselben Leuten verbringen. Vielleicht stellt sich bei manchen schon der Gedanke ein, dass auch diese Zwangspause langsam ein Ende haben könnte. Mittlerweile hat nun der ebenfalls kontaktarme Studienalltag wieder begonnen. Bei all den ärgerlichen Umständen – von stockenden Vorlesungen bis hin zum verschobenen Praktikum/Auslandssemester – sollten wir nicht vergessen, dass die Epidemie abseits der Universität teils gravierendere Folgen hat.
Neben den vielen von Arbeitslosigkeit bedrohten, den Bezieher*innen von Kurzarbeitergeld, den von großen Verdienstausfällen betroffenen kleinen Betrieben oder den viel gewürdigten und immer noch schlecht bezahlten medizinischen Hilfskräften sind es besonders die unwürdigen Zustände vieler Geflüchteter, die während der Corona-Epidemie ein neues Ausmaß erreichen.
So wurde seit einiger Zeit die Seenotrettung Europas komplett eingestellt und im Mittelmeer sterben so viele Menschen wie nie zuvor (Popp 2020). In einem riesigen inoffiziellen Geflüchtetenlager an der griechisch-türkischen Grenze, wo sich Ende Februar wohl bis zu 20.000 Geflüchtete aufhielten, eskalierte die Lage als Grenzsoldat*innen diesen Geflüchteten die Einreise verweigerten (Zeit Online 2020). Neben eingesetztem Tränengas und Blendgranaten wurde wohl auch scharf geschossen und ein Geflüchteter kam zu Tode (Popp 2020). Die genauen Umstände des Todes sind unklar und Ermittlungen werden verhindert (ebd.). Ein neuer Tiefpunkt des Selbstverständnisses der Europäischen Union, die neben der massenhaft unterlassenen Hilfeleistung im Mittelmeer aller Wahrscheinlichkeit nach nun auch noch einen von Grenzsoldat*innen erschossenen Toten auf die Liste der Vorfälle an Europas Außengrenzen setzen muss (ebd.). Die Menschen- und Grundrechtsverstöße auf griechischen Inseln und die katastrophalen medizinischen und hygienischen Bedingungen erfordern sofortiges Handeln.
Für überfüllte Geflüchtetenunterkünfte und schlechte medizinische Verhältnisse müssen wir allerdings nicht unbedingt nicht so weit schauen. Sehr viel näher, aber immer noch außerhalb des beschaulichen und ruhigen Corona-Studienlebens im Weimar, spielen sich auch in Thüringen außergewöhnliche Szenerien ab. In Suhl stand eine ganze Erstaufnahmestelle – eine Unterkunft mit 533 Personen – unter Quarantäne nachdem ein Corona-Fall nachgewiesen werden konnte (Litschko 2020). Nach Unruhen fuhr die Polizei mit Wasserwerfern vor und 150 Beamte in Schutzanzügen führten 22 Geflüchtete ab (ebd.). Die Informationslage für die Geflüchteten über Grund und Dauer der Quarantäne war äußerst schlecht, ebenso wie die medizinische Ausrüstung und die Beschäftigungsmöglichkeiten in der Unterkunft. Insbesondere für Geflüchtete, die bereits Erfahrungen mit Inhaftierungen hatten, bedeutete die Quarantäne und der Polizeieinsatz eine extreme Belastung (ebd.).
Dieser Text nimmt Bezug auf ein Doppelkamingespräch über die Situation von Geflüchteten in Thüringen und Europa am 14. und am 21.11.2019. In der ersten Sitzung sahen wir den Dokumentarfilm Seefeuer (im Original Fuocoammare) vom Regisseur Gianfranco Rosi. Der Film handelt vom Alltag verschiedener Dorfbewohner*innen, insbesondere dem zwölfjährigen Jungen Samuele auf der Insel Lampedusa. Ihr vom typischen süditalienischen Leben geprägter Alltag wird durch die Ankunft und Verwaltung von Geflüchteten-Booten sowie die medizinische Versorgung der Menschen aus aller Welt vor völlig neue Herausforderungen gestellt. Der Film macht uns bewusst, dass Geflüchtete die Überfahrt auf dem Mittelmeer oft nicht überleben oder in einem katastrophalen gesundheitlichen Zustand von der Küstenwache aufgegriffen werden.
In der Regel nehmen wir in Deutschland davon nur flüchtige Nachrichten zur Kenntnis, während die Zustände an den Außengrenzen der EU zur traurigen Alltäglichkeit geworden sind.
In der zweiten Sitzung hatten wir Gelegenheit einen tieferen Einblick in die Situation hier in Thüringen zu bekommen. Zum Thema der Sitzung „Geflüchtetensituation in Thüringen zwischen ehrenamtlicher und institutionalisierter Hilfe“ stellten unsere Gäste Markus, Karla, Franziska, Kilian, Caro, Selina und Miriam uns ihr Ehrenamt vor und beantworteten einige Fragen. Die Perspektive der institutionalisierten Hilfe kam aufgrund unserer Gästeauswahl etwas kurz, doch andererseits spiegeln sich darin die realen Verhältnisse gut wider. Denn wie wir erfahren sollten, wird die Geflüchtetenhilfe momentan zum größten Teil von privaten und ehrenamtlichen Hilfsorganisationen, Vereinen und der Kirche organisiert. Diesbezüglich war auch der Einblick von Karla von der Refugee Law Clinic Jena (RLCJ) sehr interessant. Die RLCJ besteht zum großen Teil aus Jura-Student*innen und bietet Rechtsberatung und Unterstützung für Geflüchtete an, besonders in der Kommunikation mit den Ämtern. Gerade vor dem Hintergrund der stückweisen Aushöhlung und Verklausulierung des ursprünglich bedingungslosen Grundrechts auf Asyl (Walther 2015), bieten Organisationen wie diese den Geflüchteten in der komplizierten und sich wandelnden Rechtslage die Möglichkeit ihre Rechte wahrzunehmen. Hier war es spannend zu erfahren, wie wenig offen und tolerant viele Ämter für die Kommunikation mit Geflüchteten sind.
Bereichernd war auch der Einblick in die Arbeit des in Weimar sehr aktiven Netzwerk Welcome Weimar, vertreten durch Franziska, und die zahlreichen zugehörigen Initiativen wie zum Beispiel der Initiative für Freundlichkeit, welche uns Kilian und Caro vorgestellt haben. Netzwerk Welcome Weimar bietet von Sprachkursen und Betreuungsangeboten bis hin zu einem Buddy-Programm zahlreiche Hilfsangebote an. Hier wurde auch die Frage diskutiert, welche Vor- und Nachteile die ehrenamtliche Hilfe hinsichtlich einer persönlicheren, herzlicheren Beziehung zu Geflüchteten leisten kann und welche Probleme dadurch entstehen könnten.
Selina und Miriam erweiterten die Perspektive auf den Inhalt ihres Seminars „Solidarity Cities“.: Vorgestellt wurde das Konzept von einer Stadt, welche offen und solidarisch funktioniert, Abschiebungen sowie Illegalität von Menschen unmöglich macht und allen Bewohner*innen Wohnen, Arbeiten und Teilhabe an der Gestaltung der Stadt ermöglicht. Im Kurs wurde unter anderem untersucht, welche Mechanismen in der Stadt ausgrenzend wirken und was man an dieser Stelle ändern könnte.
Markus, der uns die Erfurter Lokalgruppe der Bewegung Seebrücke vorstellte, verdeutlichte noch einmal die völlige Überforderung der wenigen Helfer*innen sowie den großen Arbeitsaufwand, den es erfordert, dauerhafte Bleibeperspektiven zu schaffen.
Die letzten Wochen mit Corona führten uns eindrücklich die schlechten Zustände in den provisorischen Unterkünften und unser desolates System der Aufnahme von Geflüchteten vor Augen.
Die Krise und der bedenkliche Umgang mit Geflüchteten, zeigt wie schnell solidarische Grundwerte und daraus abzuleitende Handlungen als nebensächlich abgetan werden, sobald andere Problemlagen vor der eigenen Haustür als wichtiger erachtet werden.
Im Film Seefeuer haben wir gesehen, wie viel mehr andere Länder und Städte auch aufgrund ihrer geografischen Lage leisten und leisten müssen. Das Kamingespräch hat uns gezeigt, wie viel Arbeit die Aufnahme und die Integration der Geflüchteten in Thüringen erfordert. Besonders dann, wenn diese Arbeit auf nur wenige ehrenamtliche Akteur*innen verteilt wird, und Staat und Verwaltung dabei eher Steine in den Weg legen, als zu helfen.
Hier sind die Websites der erwähnten Institutionen zu finden:
Seebrücke Erfurt: https: //seebruecke.org/lokalgruppen/erfurt/
Refugee Law Clinic Jena: https://rlc-jena.de/
Netzwerk Welcome Weimar und
Initiative für Freundlichkeit: https://www.welcome-weimar.com/